DIE DEUTSCHE SPRACHE IN LITERATUR, GESELLSCHAFT UND POLITIKGraubünden Deutsch und Romanisch in Graubünden (Teil 1)
Deutsch und Romanisch in Graubünden (Teil 2)
von R. Wyß
DER SIEGESZUG VON RUMANTSCH GRISCHUN WIRD AUFGEHALTENRG in Verwaltung und Schule
Nach der freundlichen Aufnahme von Rumantsch Grischun durch die schweizerische Öffentlichkeit und eine romanische Bildungselite (Umfrage E. Diekmann), seiner Einführung beim Bund für amtliche Dokumente (1986) und im Kanton Graubünden als Amtssprache (2001) drängte die Lia Rumantscha dazu, die neue Dachsprache auch als Schulsprache zu fördern, um das gefährdete Romanisch gegenüber dem Deutschen zu stärken. Als dann im Kanton Graubünden im Jahre 2003 die Regierung nach Sparmöglichkeiten suchte, wurde sie im Bildungswesen fündig; Rumantsch Grischun bot sich für die sprachliche Vereinheitlichung in den romanischen Schulen an; auf Vorschlag der Regierung beschloss der Große Rat, von 2005 an Lehrmittel nur noch in der neuen Einheitssprache herauszugeben. Es wurden „Pioniergemeinden“ gesucht, welche dazu bereit waren, in einem Schulversuch die Kinder in Rumantsch Grischun anstelle des regionalen Idioms einzuschulen. Es meldeten sich das Münstertal, das Oberhalbstein und mehrere Gemeinden im unteren Teil des Bündner Oberlandes. Das Projekt „Rumantsch Grischun in der Schule“ wurde im Auftrage des Kantons sogleich auch von 2009 bis 2011 wissenschaftlich begleitet und untersucht, und zwar vom Institut für Mehrsprachigkeit der Universität Freiburg .
Frühe Auseinandersetzungen um RG
In den ersten Jahren nach der Präsentierung und Lancierung von Rumantsch Grischun gab es erstaunlich wenig Widerstand gegen die neue Dachsprache. Von 1988 gab es dann doch zunehmend Kritik an Rumantsch Grischun, welches als Gefahr für die traditionellen Idiome und für das Romanische selbst gesehen wurde (T. Candinas). Über RG wurde in den folgenden Jahren im Kanton heftig gestritten, was die Bündner Regierung dazu veranlasste, zwecks Beruhigung der Gemüter eine wissenschaftliche Meinungsumfrage zu RG durchführen zu lassen. Die Umfrage ergab eine relative Mehrheit für RG (44% gegen 35%). Die Presse hob vor allem die Zustimmung hervor, die Lia Rumantscha sah sich in ihren Bemühungen für RG bestätigt, von den Gegnern des RG wurden jedoch die Fragestellungen und die Aussagekraft der Umfrage bezweifelt. Die Bündner Regierung zog 1996 aus dieser Untersuchung, die bei Lichte besehen kein klares Ergebnis betreffend Beliebtheit und Akzeptanz von RG bot, den weisen Schluss, Rumantsch Grischun als Verwaltungssprache des Kantons einzuführen, nicht aber als Schulsprache. Im Verkehr mit einzelnen Regionen oder Gemeinden sollten weiterhin die regionalen Idiome verwendet werden können. Mit diesem Entscheid konnten Befürworter und Gegner von Rumantsch Grischun leben. In der Volksabstimmung von 2001 erreichte RG eine Zweidrittelsmehrheit der Stimmen, in den romanischen Unterengadin und Surselva jedoch wurde es abgelehnt, ebenso von einer Mehrheit der Stimmenden in den Gemeinden mit romanischer Unterrichtssprache an der Grundschule. Nach der Abstimmung beschloss der Regierungsrat in einer Verordnung, künftig mit romanischen Gemeinden nur noch in RG zu kommunizieren. Er tat dies entgegen seinem früheren Beschlusse von 1996 und implizit auch im Widerspruch zu den Aussagen in seiner Botschaft zur Abstimmung. Das war ein unkluger Schritt, der für kommenden Diskussionen um die Themen ‚Schule’ und ‚Presse’ nur Zündstoff lieferte.Silvaplana : Chesa Güglia - Julierhaus
RG als Schulsprache – eine Änderung der Spielregeln
Ursprünglich sollte Rumantsch Grischun nur ergänzend zu den regionalen Schriftsprachen treten, den idiomen, von denen drei eine fünfhundertjährige Tradition haben. RG sollte nur als überregionale Verwaltungs- und Gesetzessprache vom Bund und vom Kanton Graubünden für offizielle Texte eingesetzt werden. Indem RG die Mitte zwischen den Idiomen hält, ist es für Romanen leicht oder mit wenig Übung verständlich. Außer den Verfassern dieser Texte sollteniemand diese Sprachform aktiv verwenden müssen. Die Frage, wie kompetente Verfasser für RG-Texte gefunden werden sollte, wurde offenbar nicht ernsthaft gestellt. Wahrscheinlich ging die Lia Rumantscha davon aus, selbst in ihren Büros solche Texte in großem Umfang liefern zu können. Viele Gemeindeverwaltungen haben schon heute Mühe, Leute zu finden, welche Romanisch nicht nur sprechen, sondern auch schreiben können. Das ist der Fall, obwohl die regionalen Idiome in den Schulen gelehrt und als Schulsprache verwendet werden.
Prof. Heinrich Schmid erhielt den Auftrag, Rumantsch Grischun zu entwickeln, von Bernhard Cathomas im Namen der Lia Rumantscha. Cathomas war als Sekretär dieser Organisation die treibende Kraft bei der Förderung von RG. Die Lia Rumantscha setzte sich die Einführung von Rumantsch Grischun als Schulsprache in ganz Romanisch-Bünden zum strategischen Ziel. Cathomas forderte 1997 an der Scuntrada in Ems, einer Art Landsgemeinde der Romanen, eine Stärkung der überregionalen romanischen Identität, zu welcher eine möglichst schnelle Einführung von RG an der Schule beitragen sollte. In einem Grundsatzpapier von 2002 forderte die Lia Rumantscha eine rasche und gut vorbereitete Einführung von RG als Schulsprache von der ersten Klasse an. RG sei „die einzige und wohl auch letzte Chance zur Stärkung des Romanischen“ . Der Großratsbeschluss von 2003, neue Lehrmittel nur noch in RG herauszugeben, war wie erwähnt wesentlich dem Sparwillen der kantonalen Politiker zu verdanken. Er wurde im Engadin und im Bündner Oberland von den meisten Romanen nicht freundlich aufgenommen. Sie sahen sich als Betroffene des Beschlusses von der politischen Prominenz, der Lia Rumantsche und der deutschsprachigen Mehrheit im Kanton majorisiert. Gegen die wachsende Kritik verteidigte Regierungsrat Lardi den Beschluss mit Nachdruck. Dem Rumantsch Grischun gehöre die Zukunft, und davon müssten die Leute nun überzeugt werden. Breiter Widerstand gegen RG in der Schule kam außer von der jungen CVP Surselva vor allem aus Lehrerschaft, Schulbehörden und Gemeindevorständen im Engadin und von intellektuellen Romanen, die sich im Juni 2004 in einem offenen Brief an die Bündner Regierung gegen deren sprachpolitischen ‚Handstreich’ wehrten. Lardi ließ sich van alldem nicht beeindrucken. Im Oktober 2004 wurde das Grundkonzept ‚Rumantsch Grischun in der Schule’ vorgelegt. Neu sollte Rumantsch Grischun neben den Idiomen auch aktiv verwendet werden, was natürlich Unterrichtszeit in Anspruch nehmen würde und zu Lasten der Idiome ginge. Damit ging die Bündner Regierung weit über die Empfehlungen einer Arbeitsgruppe hinaus, über das sog. Konzept Haltiner von 1999. Rumantsch Grischun sollte Alphabetisierungssprache werden und als Schriftsprache die Idiome weitgehend verdrängen; diese hätten dann nur noch literarische Bedeutung. Der Einführungsprozess von RG in der Schule sollte in drei Etappen erfolgen und im Jahre 2029 abgeschlossen sein. Zunächst wurde Rumantsch Grischun als Schulsprache in sogenannten Pioniergemeinden eingeführt: Es meldeten sich das Münstertal, das Oberhalbstein und die meisten Gemeinden in der Umgebung von Ilanz, der Foppa. Somit waren das Unterengadin, das Oberhalbstein und die untere Surselva vertreten. RG wurde in diesen Gemeinden in den Jahren 2007 und 2008 eingeführt, und bereits 2009-11 wurde der Versuch wissenschaftlich begleitet und ausgewertet. Publiziert wurden die Ergebnisse unverzüglich. Sie weisen aus, dass in RG ähnliche Fertigkeiten erzielt werden können wie in den Idiomen, wenn auch die Leistungen knapp darunter bleiben. Berthele und Lindt kommen zum Schlusse, dass der Entscheid für RG oder für die Idiome letztlich ein politischer sein muss. Sie werfen auch die Frage auf, ob ein Nebeneinander von Idiom und RG die Schüler nicht überfordern könnte.
Silvaplana: Haus bei der KircheAufstieg und Fall von RG in der Schule
Druck erzeugt Gegendruck, vor allem in Graubünden. Das ‚Grobkonzept RG...’ wurde zunächst vor allem im Engadin vehement abgelehnt, während sich die Surselva zunächst je nach Interpretation durch ‚zustimmendes, gleichgültiges oder resigniertes’ Schweigen auszeichnete.
Mit der Einführung von RG in den Pionierschulen wurde es einer breiteren Öffentlichkeit klar, dass die Regierung unter Führung des Bildungsministers Lardi mit der Umstellung des Schulunterrichts auf die neue Schriftsprache ernst meinte. 2006 war das erwähnte Buch von Renata Coray herausgekommen, welches die forsche Gangart der Bündner Regierung belegte. Im Unterengadin drohte das Vallader durch den Wegfall des Münstertals geschwächt zu werden, und die Gemeinden im unteren Teil des Oberlandes, welche zu RG übergegangen waren, drohten die Geltung des Idioms Sursilvan zu schwächen. Nur das Oberhalbstein blieb bei seiner Wahl von RG, obwohl dadurch das regionale Idiom Surmiran langfristig in Frage gestellt wurde. Die Regionalzeitung Pagina da Surmeir erscheint aber weiterhin in Surmiran.
Der Widerstand gegen Rumantsch Grischun kam nun direkt aus den betroffenen Regionen; er wurde zu einer breit abgestützten Volksbewegung. Vertreter der Surselva und des Engadins schlossen sich 2011 in der Vereinigung Pro Idioms zusammen, die sich für die Beibehaltung der traditionellen Schriftsprachen einsetzte und den Geltungsbereich von RG dezidiert auf den Stand von 2001 zurückzubinden entschlossen war. Pro Idioms hat gegenwärtig (im Okt. 2018) 4700 Mitglieder, zwei Drittel davon in der Sektion Oberland, ein Drittel in der Sektion Engadin.
In einem Referat vom Februar 2011 setzt sich Alexi Decurtins mit den Argumenten des RG-Promotors Bernhard Cathomas auseinander. Er vergleicht Rumantsch Grischun, bei allem Respekt für offensichtliche Unterschiede, mit dem Rumantsch fusionau aus den 1860er Jahren. Dieses war u.a. an der „Sursilvan-Lastigkeit seines Wortschatzes gescheitert. RG könne nicht mit den Hochsprachen Deutsch und Italienisch verglichen werden, die nicht das Ergebnis von Sprachplanung seien. RG lehne sich im Wortschatz vor allem an das Sursilvan an. Bei der Standardisierung bleibe das ziemlich eigenwillige Ladin mit seiner langen Schrifttradition weitgehend auf der Strecke. RG sollte nach Cathomas und der Lia Rumantscha die romanischen Kräfte bündeln und das Romanische insgesamt stärken. Decurtins wendet sich egen das „starre Dogma“, das Romanische brauche zwingend eine überregionale Schriftsprache. Decurtins erkennt an, dass das Romanische in Graubünden und in der föderativen Schweiz gute Bedingungen für seine Weiterentwicklung und sein Überleben habe. Er verweist auf seinen Namensvetter Caspar Decurtins aus dem 19. Jahrhundert, der erkannt habe, dass das Rätoromanische in den Gemeinden und Regionen verwurzelt sei und daraus seine Lebenskraft schöpfe. Anderseits seien die Romanen seit langem zweisprachig. Anderseits seien die Romanen seit langem zweisprachig. Deshalb brauche es kein RG. Im Jahre der Gründung von Pro Idioms (2011) kehrten 17 Gemeinden, die sich zunächst für RG entschieden hatten, zum Unterricht in den regionalen Idiomen zurück. Als letzte Bastion von RG in der Schule fiel schließlich Laax am 14.4.14. Bei RG blieben nur das Oberhalbstein und Trins mit seiner zweisprachigen Schule.
Den Entscheid, romanische Lehrmittel nur noch in RG zu drucken, nahm der Große Rat 2013 zurück. Die dringende Herausgabe neuer Lehrmittel wurde an die Hand genommen, auf Initiative von Pro Idioms entstanden zunächst einmal Lehrmittel in digitaler Form.
Doch bereits drohte neues Ungemach für die Verfechter der Idiome. 2013 war der Entwurf des Lehrplans 21 in die Vernehmlassung gegeben worden. Zur Erfüllung der aufgelisteten Lehrziele sollte RG im Unterricht etwa gleichwertig mit den Idiomen zum Zuge kommen. Die Ablehnung des vorgelegten Entwurfes durch Pro Idioms war scharf. Das geplante tägliche Nebeneinander von Idiom und Rumantsch Grischun würde bei den Schülern ein „Halbwissen in beiden Sprachformen“ erzeugen, „welche in der Folge ungenutzt bleiben“. Nach zähen Auseinandersetzung wurde dann durch Regierungsbeschluss vom 15.3.16 RG im LP 21 für Romanisch-Bünden zurückgestuft. RG soll demnach nur in vereinzelten Texten („singuls texts“) zum Zuge kommen.
Post und Gemeindeschreiberei Lohn (Schams) 2015
SPRACHGRENZE UND MEHRSPRACHIGKEIT
Alle Romanen sind zweisprachig
Eine klare Sprachgrenze gibt es in Graubünden nicht mehr; je nachdem, ob wir auf die Amtssprachen der Gemeinden, die Schulsprache auf der Unterstufe, die Sprecher mit Romanisch als Muttersprache, als bestbeherrschter Sprache, Familiensprache oder Berufssprache abstellen, sind die Mehrheiten und Regelungen unterschiedlich. Selbst in den Kerngebieten der Surselva um Disentis und Truns herum und im Unterengadin samt dem Münstertal sind heute alle Leute zweisprachig.
Diese Zweisprachigkeit begann schon im 9. Jahrhundert und ist allmählich verstärkt worden. Bis 1860 war Romanisch in Graubünden immerhin noch in einem zusammenhängenden Gebiet die Mehrheitssprache, und ein großer Teil der romanischen Bevölkerung kam mit dem Deutschen nur gelegentlich in Kontakt.
Die Mobilität der Bevölkerung nahm jedoch zu. 1806 waren bereits die Bündner Kantonsschule gegründet worden, die privaten Gymnasien in Schiers, Zuoz und Fetan hatten ebenso wie die alte Klosterschule in disentis Deutsch als Unterrichtssprache. 1920 gewann die Gewerbliche Berufsschule Chur durch das neue kantonale Lehrlingsgesetz an Bedeutung. Der Tourismus, der sich nach 1850 entwickelte, brachte deutsche und englische Touristen nach Davos, Arosa und ins Engadin. Hotels in St. Moritz beschäftigten Angestellte u.a. aus dem Bündner Oberland. Die Kurorte wuchsen, während in ländlich gebliebenen Gegenden die Bevölkerung schwand. Bis 1913 war das Netz der Rhätischen Bahn fertiggestellt.
Immerhin gab es bis in die frühen 1960er Jahre Kinder, die ganz auf Romanisch aufwuchsen und abgesehen vom Deutschunterricht in der Schule kaum Deutsch sprachen, bis dieses im 7. Schuljahr hauptsächliche Unterrichtssprache wurde. Erwachsene im abgelegenen Lugnez sprachen mit Auswärtigen Hochdeutsch, nicht Bündnerdialekt. Doch das ist Geschichte. Heute wachsen die Kinder, die zu Hause romanisch sprechen, zweisprachig auf: Wenn sie in die Schule eintreten, verstehen sie bereits Deutsch in Dialektform und sprechen es oft auch. Außerdem sind sie durch Radio und Fernsehen und weitere Medien dem Hochdeutsch ausgesetzt. In der Mehrzahl der Gemeinden, die als romanisch gelten, gibt es auch Einwohner, die sich nicht auf Romanisch verständigen können. Dörfer, in denen man mit Romanisch nicht durchkommt, sind anderseits nirgends weit entfernt.Inschrift an einem Haus in Pignia
ENT ILS MAUNS DA DEUS CUMMONT LA MIIA CASA ANTIERAMEING ILS MES UFFONTS A MES PARENS A TUT QUELS AN CVA V(IA)ASCHENS A DEUS VEN BUC ABANDUNAR
In Gottes Hände befiehl mein Haus ganz und gar, meine Kinder und meine Verwandten und all jene die hier wirken, sie wird Gott nicht verlassen.
Verbotstafel an der Holzbrücke über den Hinterrhein bei Andeer (Schams)
Die Rolle des Romanischen
Welche Rolle kann das Romanische einnehmen, die es als lebendige Sprache erhält?
Leute mit romanischer Muttersprache sehen diese „als die wichtigste Sprache der (mündlichen) Kommunikation im Nahbereich, d.h. in der Familie und Verwandtschaft, innerhalb der Dorfgemeinschaft, in der Primarschule sowie im Freundeskreis“. Sie schätzen auch durchweg „den funktionalen Vorteil des Romanischen als Mehrwissen und/oder Schlüssel zu anderen Sprachen“. Der Sprachgebrauch ist pragmatisch: Mit deutschsprachigen Zuzügern wird Deutsch gesprochen, Assimilation wird in der Regel nicht erwartet. Das Romanische ist für seine Sprecher vor allem eine gesprochene Sprache. Deutsch dominiert als geschriebene Sprache selbst in stark romanisch geprägten Gemeinden. Die meisten lesen Bücher auf Deutsch, Romanisch kommt neben Deutsch vor allem bei Zeitungen zum Zuge. Im Oberland ist es La Quotidiana, die 1997 als Tageszeitung gegründet wurde und die Gasetta romontscha ersetzte. Mit der Förderung von Rumantsch Grischun sollte sie ganz Romanisch-Bünden abdecken; heute erscheinen die regionalen Nachrichten wieder in den Idiomen, vor allem in Sursilvan. Die Zahl der Abonnenten ist seit 1997 von 7’500 auf unter 4’000 zurückgegangen. Der Fortbestand der Quotidiana ist in Frage gestellt, ein neues Modell für 2019 wird noch im Herbst 2018 erwartet. Im Engadin hat La Quotidiana nie Fuß gefasst; anstelle des Fögl Ladin ist die Engadiner Post getreten mit einem zwei- bis dreiseitigen Teil in Ladin (Putèr und Vallader). Als Tageszeitung hält sich eine Mehrheit in Romanisch-Büden eine deutschsprachiges Blatt, vor allem die Südostschweiz, daneben auch das Bündner Tagblatt.
Romanisch ist eine Kleinsprache. In Graubünden wird es von 27'000 Leuten als Hauptsprache gesprochen und von 38'400 regelmäßig verwendet (laut Volkszählung 2000). In der restlichen Schweiz verstreut kommen 13'000 bzw. 25'000 dazu. In Graubünden ist Deutsch unbestritten die Hauptsprache, obwohl auch Romanisch und Italienisch Amtssprachen sind. Anders als das Italienische hat aber das Romanische kein Hinterland, an welches es sich sprachlich anlehnen kann. Bei neuen Wortbildungen orientiert sich das Romanische wohl oder übel am omnipräsenten Deutsch.
Mit Rumantsch Grischun wollte die Lia Rumantscha eine Dachsprache schaffen, die helfen sollte, das Romanische auf der Höhe der Zeit zu halten und daraus eine „gleichwertige, voll funktionierende und ausgebaute Sprache“ machen. Dieses Unterfangen ist aber aus mehreren Gründen prekär.
1. Die überregionale Sprache der Politik und Wirtschaft, der Kultur und Ausbildung, die dominierende Brückensprache ist für Romanisch-Bünden seit je das Deutsche. Da ist für die Konkurrenzsprache Rumantsch Grischun, die sowohl neben die Idiome als auch neben das unbestrittene Deutsch treten soll, kein Raum vorhanden. „Wie kann eine historisch und einvernehmlich gewachsene Minderheitssprache in einer Symbiose mit einer anerkannten und funktionalen Großsprache Komplementärsprache sein und gleichzeitig den Rang einer Vollsprache anstreben? Aus sprachökonomischen Gründen gibt es keine vollständige Zweisprachigkeit und praktisch kann das Romanische nie Vollsprache und logischerweise einzige Sprache einer Gemeinschaft werden.“
2. Mit dem Ziel, RG als Schulsprache einzuführen, haben die LR und die Bündner Regierung, wie oben ausgeführt, dem Romanischen keinen Dienst erwiesen, sondern vor allem Auseinandersetzungen provoziert, welche Kräfte gebunden haben, die anderweitig nutzbringender hätten eingesetzt werden können.
3. Das Ziel, Romanisch zu einer voll funktionsfähigen modernen Sprache zu machen, ist auch wegen des Aufwandes zu ehrgeizig. Zum Vergleich: Selbst für Island ist es schwierig, seine Sprache dem technischen Fortschritt und der gesellschaftlichen Entwicklung anzupassen. Dabei handelt es sich um einen unabhängigen Staat, und das Land hat auch sonst wesentlich bessere Voraussetzungen als die romanische Minderheit in der Schweiz. Isländisch ist die einzige offizielle Sprache. Die Sprachgemeinschaft zählt immerhin über 300'000 Leute. Das Land ist ethnisch ziemlich homogen. Es hat eine tausendjährige Schrifttradition, die Sprache ist einheitlich, es gibt nur geringe dialektale Unterschiede. Da sich das Isländisch in all der Zeit formal wenig verändert und den alten Wortschatz weitgehend bewahrt hat und da es sowohl über eine große mittelalterliche als auch über eine reiche moderne Literatur verfügt, kann es für neue Wortbildungen auf einen beträchtlichen eigenen Fundus zurückgreifen. Die Schöpfung neuer Begriffe aus eigenen Beständen ist auf Island ein Art Volkssport, nicht nur die Aufgabe philologisch geschulter Spezialisten einer Sprachorganisation. Trotzdem ist diese ständige Weiterentwicklung nicht einfach. Wir beeilen uns beizufügen, dass die Isländer dabei ehrgeiziger sind als andere Sprachgemeinschaften, z.B. die deutsche. Im Deutschen werden Fachbegriffe oft unverändert übernommen, sie werden nicht einmal formal und lautlich so angepasst, dass sie sich ins Deutsche einigermaßen harmonisch einfügen.
Solèr bedient sich eines Schemas von Peter J. Weber in dessen Portfolioanalyse .
Verwendung in der Familiestark
Lokalsprachen
Glokalsprachen
schwachAkademisierte Sprache
Globalsprachen
schwach
stark
Verwendung in der WirtschaftAuf Romanisch-Bünden übertragen heißt das nach Solèr: Die romanischen Idiome mit ihren Mundarten sind Lokalsprachen. Das Deutsche ist als Dialekt Glokalsprache, als Standarddeutsch Globalsprache. Der Versuch, das Romanisch aufzuwerten, indem man ihm neue Domänen erschließt, führt eher zu seiner Abschwächung und macht daraus eine akademisierte Sprache. Das ist eigentlich auch die Überlegung, welche die Gegner von RG als Alphabetisierungssprache auf die Barrikaden gehen ließ; es ist auch der eigentliche Grund für die kühle Aufnahme der Tageszeitung La Quotidiana.
Solèr plädiert dafür, die Ziele fürs Romanisch realistisch zu setzen. Er verweist auf die geringe Assimilationskraft des Romanischen. „Es ist darauf zu verzichten, die Sprache mit Gewalt und Ideologie um jeden Preis und nötigenfalls auch gegen den Willen der Sprachträger retten zu wollen.“ Stattdessen sei es besser, Romanisch als Sprache der Familie, des Dorfes, der Region zu stärken, also in seinen typischen Bereichen.
Warnschild am Hinterrhein bei der Holzbrücke in Andeer auf Deutsch, Romanisch (Sutsilvan), Italienisch, Französisch und Englisch
Ortsnamen in Graubünden
In der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts wurden viele amtliche deutsche Namen von romanischen Bündner Gemeinden romanisiert, die meisten 1943 nach der Anerkennung des Rätoromanischen als Landessprache. Die Dörfer sind nun seit langem dementsprechend beim Ortseingang beschildert, und die amtlichen Namen sind auch auf den Landeskarten und Reisekarten zu finden, was natürlich auch praktische Gründe hat. Auch die deutschen Gemeinden, selbst die Walsersiedlungen, haben neben einem deutschen auch einen romanischen Namen. Diese werden von Radio Televisiun Svizra konsequent verwendet, so dass sie sich lautlich gut in die Sätze einfügen. Bei den deutschsprachigen Medienschaffenden ist ein solches Verhalten selten festzustellen; meistens brauchen sie die romanischen Namen, vielleicht aus Rücksicht auf die romanischen Leser und Zuhörer, vielleicht aus Respekt vor der Amtlichkeit dieser Namen oder weil sie Angst davor haben, sich mit einem alten Zopf sonst lächerlich zu machen. Vielleicht verwenden sie die romanischen Namen auch ganz einfach deshalb, weil sie schon gar nicht wissen odler auf den Gedanken kommen, dass es auch deutsche gibt. Umständlich und wenig überzeugend wird es oft bei Ableitungen; z.B. „Abstimmung verwirrt Scuoler“ in einer Überschrift wirkt unbeholfen. Wir empfehlen die Verwendung der deutschen Namen, jedenfalls wenn sie nicht gar gesucht wirken wie „Schweinigen“ für Savognin. Wir verzichten auch auf Zuz für Zuoz, Ponte Campovasto für La Punt. Sonst aber es deshalb Schuls und Schulser, nicht Scuol und Scuoler, Samaden und nicht Samedan, Trins und nicht Trin, Waltensburg und nicht Vuorz, Tavetsch und nicht Tujetsch.Hier folgen deshalb zwei Karten Graubündens, die eine mit den romanischen und die andere mit den deutschen Ortsnamen. Die Karten können in guter Auflösung als PDF heruntergeladen werden.
Diese zusammenfassende Darstellung stützt sich, ebenso wie weitere Kapitel, in starkem Maße auf die Darstellung in der Dissertation von Frau Coray: Coray, Renata. Von der Mumma Romontscha zum Retortenbaby Rumantsch Grischun: Rätoromanische Sprachmythen. Chur 2008. 647 S.
Raphael Berthele und Bernhard Lindt-Bangerter . Evaluation des Projekts „Rumantsch Grischun in der Schule“. Freiburg/Fribourg, Oktober 2011
Coray, S. 184.
Evaluation des Projekts „Rumantsch Grischun in der Schule“. Berthele, Raphael und Lindt-Bangerter , Bernhard. Freiburg (Institut für Mehrsprachigkeit) 2011.
Coray, S. 215.
Coray, S. 132 sowie 382 ff.
„Sprachen fallen nicht vom Himmel.“ Die politischen Referate von A. Urech und F. Friberg der Gründungsversammlung vom 14.1.2011 gehalten wurden, sind auf derselben Webseite abrufbar. http://www.proidioms.ch/index.php/deutsche-fassung
http://www.proidioms.ch/attachments/article/71/27.10.2013_
Stellungnahme%20der%20PIS%20und%20PIE%20zum%20LP21.pdfRapports dallas suprastontas e dils suprastonts dalla radunonza generala 2016 dalla Pro Idioms Surselva. Link dazu auf proidioms.ch
S. die Ausführungen in Teil 1: Mitteilungen 1/2018, S. 21 f.
Coray, Renata. Die Bedeutung des Rätoromanischen für die romanischsprachige Bevölkerung. Schlussbericht NFP 56 (2009). S. 6
www.snf.ch/SiteCollectionDocuments/nfp/nfp56/nfp56_schlussbericht_coray.pdfEbenda, S. 7-8 und Solèr, Clau. Rätoromanisch erhalten – die Quadratur des Kreises? Bündner Monatsblatt 2008, Heft 2, S. 145.
https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=bmb-002:2008:0::518Coray, Die Bedeutung S. 9 und Solèr S. 148, 151-2, 155.
http://www.kleinreport.ch/news/ratoromanische-tageszeitung-quotidiana-vor-ungewisser-zukunft-86765/
Zitate auf dieser Seite aus Solèr 153.
Weber, P.J. „Vom Nutzen oder Unnutzen eine Sprache zu sprechen – oder die Relativität einer Sprachökonomie“. In: Nelde, Peter H. (Hrsg.): Sociolinguistica 19 (Sprache und Wirtschaft), Tübingen (Niemeyer), 161.
Solèr, S. 154-5.
Solèr, S. 143: „Die romanischen Kindergärten haben die Aufgabe, fremdsprachige Kinder sprachlich zu integrieren. Erfolgreich sind diese Bemühungen erst bei Gemeinschaften mit einem Romanischanteil von mehr als zwei Dritteln der Bevölkerung; sonst bleibt Romanisch eine Fremdsprache im „Ghetto“ Kindergarten.
Solèr, S. 155.