ANTRAG AN DEN REGIERUNGSRAT DES KANTONS BERN
Absender:
Bund der angestammten deutschsprachigen Minderheiten in der Schweiz (BADEM)
- Kultur Natur Deutschfreiburg (KUND), Postfach 161, 1701 Freiburg
- Gesellschaft Walserhaus Gurin, 6685 Bosco Gurin
- Sprachkreis Deutsch/Bubenberg-Gesellschaft (SKD), 3000 Bern
Bern, 12. September 2020
Antrag
zur Förderung des Deutschen als angestammte Minderheitensprache im Berner Jura im Zusammenhang mit der Förderung der Zweisprachigkeit im Kanton Bern und der Umsetzung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (ECRM)
Sehr geehrter Herr Regierungspräsident,
sehr geehrte Damen Regierungsrätinnen, sehr geehrte Herren Regierungsräte
Um eine Lücke im Minderheitenrecht des Kantons Bern zu füllen und um die Zweisprachigkeit und Verständigung im ganzen Kanton zu verbessern, stellen wir Ihnen den Antrag, die angestammte deutschsprachige Minderheit im Berner Jura in folgenden Bereichen zu schützen und zu fördern:
1. Öffentlicher Gebrauch der deutschen Sprache in den Gemeinden
2. Zugang der deutschsprachigen Minderheit zu Unterricht in deutscher Sprache oder zu zweisprachigem Unterricht während der gesamten obligatorischen Schulzeit.
Wir beantragen zu diesem Zwecke die Einsetzung von zwei Arbeitsgruppen, die sich je einem dieser Bereiche widmen und dazu Vorschläge erarbeiten sowie Anträge zu Gesetzgebung und Verordnungen stellen.
Angesichts der Tatsache, dass es im Berner Jura seit 2018 keine deutschsprachigen oder zweisprachigen Schulen mehr gibt, beantragen wir für Kinder aus deutsch- oder gemischtsprachigen Familien Sofortmaßnahmen, die darin bestehen, dass diesen Kindern ein guter Deutschunterricht geboten wird, der ihren Vorkenntnissen entspricht.
Außerdem beantragen wir die Schaffung eines kantonalen Sekretariats, welches die Interessen der deutschsprachigen (und zweisprachigen) Minderheit wahrnimmt.
Sprachenrechtliche Voraussetzungen
Am 23. Dezember 1997 ratifizierte die Schweizerische Eidgenossenschaft die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen des Europarats (ECRM); die Charta trat am 1. Februar 1999 in Kraft. Artikel 7 der Charta schützt und fördert auch Deutsch in den Kantonen und Gemeinden, wo es eine angestammte Minderheitensprache ist.
Gemäss Artikel 7.4 der Charta soll der Vertragsstaat eine Einrichtung einsetzen, welche die Behörden auf allen Ebenen in allen Angelegenheiten der Förderung der jeweiligen Minderheitensprache berät. Die vom Bund und vom Kanton Graubünden geförderten Organisationen Lia Rumantscha und Pro Grigioni Italiano nehmen die Aufgaben gemäss Artikel 7.4 der Charta für Rätoromanisch und Italienisch wahr. Im Kanton Bern setzen sich seit 2006 zwei offizielle Organisationen für die Belange der französischsprachigen Minderheit ein, nämlich der Conseil du Jura bernois (CJB; Bernjurassischer Rat (BJR)) und der Conseil des affaires francophones de l’arrondissement de Biel/Bienne (CAF; Rat für französischsprachige Angelegenheiten des Verwaltungskreises Biel/Bienne (RFB)).
Für Deutsch als angestammte Minderheitensprache fehlt bisher sowohl beim Bund als auch im Kanton Bern mehr als zwanzig Jahre nach der Ratifizierung auf Bundesebene eine entsprechende Einrichtung. Der Sachverständigenausschuss der Charta hat in seinem jüngsten (siebten) Prüfbericht von 2019 auf diesen Mangel hingewiesen und der Schweiz empfohlen, «eine Einrichtung zum Zweck der Beratung der betreffenden Bundes- und Kantonsbehörden in Angelegenheiten der deutschen Sprache als Minderheitensprache zu gründen». Vor diesem Hintergrund beantragen wir die Schaffung eines Sekretariates.
Es ist an der Zeit, dass auch die deutschsprachige Minderheit im Berner Jura gemäß der Verfassung des Kantons Bern (KV) geschützt und gefördert wird. Gemäß Art. 4 Abs. 1 KV ist „den Bedürfnissen von sprachlichen, kulturellen und regionalen Minderheiten ... Rechnung zu tragen“. Etwas ausführlicher lautet die Entsprechung in Art. 70 Abs. 2 der Bundesverfassung (BV): „Die Kantone bestimmen ihre Amtssprachen. Um das Einvernehmen zwischen den Sprachgemeinschaften zu wahren, achten sie auf die herkömmliche sprachliche Zusammensetzung der Gebiete und nehmen Rücksicht auf die angestammten sprachlichen Minderheiten.” In Art. 5 KV wird dem Berner Jura “eine besondere Stellung zuerkannt”, um “seine kulturelle Eigenart” zu erhalten. Zu dieser Eigenart gehört, dass der Berner Jura zwar überwiegend frankophon, aber kulturell und sprachlich seit je nicht homogen, sondern auch die Heimat einer seit langem in der Gegend verwurzelten deutschsprachigen Minderheit ist.
Dieses Rechtsverständnis wird gestützt durch die Empfehlungen des Europarates.
Im erwähnten Prüfbericht empfiehlt der Sachverständigenausschuss für den Berner Jura folgende Sofortmaßnahmen:
1a) kantonale und/oder kommunale Gesetzgebung zu erlassen zur öffentlichen Verwendung des Deutschen in Gemeinden, wo Deutsch eine Minderheitssprache ist,
1b) zu gewährleisten, dass bei Gemeindefusionen örtliche Gesetze und Praxis bezüglich des Deutschen aufrechterhalten oder eingeführt werden.
Weiter wird im Prüfbericht empfohlen,
2c) Deutschunterricht vom Kindergarten an bis in die Sekundarschulstufe zugänglich zu machen in den Gemeinden, wo Deutsch eine Minderheitensprache ist. |
Das Ministerkomitee empfiehlt der Schweiz,
alle Beobachtungen und Empfehlungen des Sachverständigenausschusses zu berücksichtigen und prioritär
1) kantonale und/oder kommunale Gesetzgebung zu erlassen über die öffentliche Verwendung von Französisch und Deutsch in den Gemeinden, wo sie Minderheitensprachen sind.
Für Französisch ist das im Kt. Bern längst geschehen, für Deutsch jedoch noch nicht. |
Sprachenfreiheit und Territorialitätsprinzip
Zur Sprachenfreiheit als Grundrecht gehört die Elementarbildung in der Muttersprache, welche in der Regel ohne die öffentliche Schule nicht geleistet werden kann. „Schwerwiegende Einschränkungen müssen im Gesetz selbst vorgesehen sein“ (Art. 36 Abs. 1) BV. Der folgende Abs. 2 ist auf die deutsche Minderheit im Berner Jura nicht anwendbar, weil kein “öffentliches Interesse” oder “Schutz von Grundrechten Dritter” geltend gemacht werden kann; der mehrheitlich französische Charakter des Berner Juras ist nicht gefährdet.
Das Territorialitätsprinzip leitet sich vor allem aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtes ab und hat seinen Niederschlag im Bundesgesetz über die Landessprachen (Sprachengesetz, SpG) vom 5. Oktober 2007 gefunden, und zwar in Art. 3 Abs. c: „Es trägt der herkömmlichen sprachlichen Zusammensetzung der Gebiete Rechnung.“ Das Territorialprinzip besagt grundsätzlich, dass die Sprachgebiete in ihrem Bestand bewahrt bleiben sollen und dass sich Zuzüger an Amts- und Schulsprache anpassen müssen. Es ist im Kanton Bern besonders seit 1948 immer angerufen worden, um die Assimilation der als Störfaktor empfundenen deutschsprachigen Minderheit im Jura voranzutreiben. Es ist aber, wie wir oben ausgeführt haben, auf historische Minderheiten nicht anwendbar. Auch in sprachlichen Mischgebieten entlang der Sprachgrenze lässt sich übrigens mit dem Territorialitätsprinzip die Einsprachigkeit auf die Dauer nicht verteidigen. Früher einsprachige Gemeinden sind zweisprachig geworden: Biel/Bienne und Evilard/Leubringen im Kanton Bern; Courgevaux/Gurwolf, Meyriez/Merlach und Courtepin im Kanton Freiburg. Außerdem gibt es Gemeinden und Gemeindeverbände mit pragmatischer Zweisprachigkeit. Kindern der sprachlichen Minderheit wird der Unterricht in der Familiensprache ermöglicht: so etwa im Freiburger Saane- und Seebezirk in Murten/Morat und Umgebung, in den Walliser Gemeinden Sierre/Siders und Sion/Sitten sowie teilweise im Verwaltungsbezirk Biel.
Förderung der Zweisprachigkeit im Kanton Bern
In der Expertenkommission für die Zweisprachigkeit im Kanton Bern, deren Bericht im November 2018 herauskam, war die deutschsprachige bernjurassische Minderheit nicht vertreten, obwohl diese mit ihrer faktischen Zweisprachigkeit für eine Verständigungspolitik Vorbildcharakter hat und in die Arbeit Wertvolles hätten einbringen können. Im Bericht selbst sucht man deshalb Hinweise auf diese angestammte Minderheit vergeblich.
Die Minderheit der deutschsprachigen Bernjurassier wird vom Kanton weder geschützt noch überhaupt als schützenswert betrachtet. Zweisprachigkeit ist jedoch, wenn Sie aus dem Zusammenspiel von Elternhaus und Nachbarschaft einerseits und der weiteren Umgebung anderseits entsteht, ein Geschenk, wie es die Freiburger Linguistin Claudine Brohy ausdrückt. Dieses Geschenk ist aber nur von Dauer, wenn Kenntnisse und Fertigkeiten in beiden Sprachen altersgemäß weiterentwickelt werden, und das geschieht in den meisten Fällen in der Schule. Im Falle von Deutsch als Muttersprache kommt erschwerend, aber auch bereichernd hinzu, dass die Hochsprache neben der Mundart, der Sprachform im täglichen Umgang mit der vertrauten Umgebung, besonders gepflegt werden muss.
Noch ist im Berner Jura die Gelegenheit günstig, die vorhandene Zweisprachigkeit zu pflegen, zu sichern und zu entwickeln. Sie kann auch auf Leute, die bisher nicht daran teilgehabt haben, stimulierend wirken.
Leider ist im Jura seit langem, vor allem jedoch seit 1948, der Weg in die entgegengesetzte Richtung beschritten worden; das Kapital ist ungenutzt geblieben und teilweise erodiert. Doch obwohl das Versäumnis noch nicht wettgemacht worden ist, ist die Gelegenheit für den Kanton Bern günstig, in seiner Sprachenpolitik auch in dieser Hinsicht einen „Paradigmenwechsel“ zu vollziehen. Dazu ist es notwendig, den Glücksfall der faktisch zweisprachigen deutschbernischen Minderheit im Berner Jura den Welschbernern nahezubringen und auf die Vorteile Gewicht zu legen, welche diese bereits vorhandene Zweisprachigkeit dem ganzen Kanton für die Verständigung und Kohäsion zwischen den beiden Sprachgemeinschaften bringen kann sowie für die Brückenfunktion des Kantons innerhalb der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Ebenso wichtig ist der wirtschaftliche Standortvorteil des Kantons, zu welchem diese Minderheit vermehrt beitragen kann. Diffuse Ängste vor einer schleichenden Germanisierung sind völlig unbegründet und können leicht entkräftet werden.
Wir sind gerne zu Gesprächen über die Umsetzung unserer Vorschläge bereit und bitten Sie darum, uns einen Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin in der Kantonsverwaltung zu nennen, mit dem oder mit der wir Verbindung aufnehmen können.
Mit freundlichen Grüßen
Vizepräsident des Sprachkreises Deutsch
René Wyss
Empfehlung 2d, S. 33. Die englische Originalsfassung des Berichtes ist abrufbar auf
https://rm.coe.int/switzerlandecrml7-en/168097e42e
Das ist gemäß dem Prüfungsbericht in allen Gemeinden des Berner Juras der Fall. (Abschnitt 97 und Fußnote 19, S. 18.
Empfehlungen 1a, 1b und 2c, ebenfalls S. 33.
Beschluss vom 11.12.2019. (Empfehlung CM/RecChL(2019)6 an die Mitgliedsstaaten.
Empfehlungen, S. 34. Der englische Originaltext ist auch abrufbar auf https://search.coe.int/cm/Pages/result_details.aspx?ObjectId=0900001680993e62
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