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DIE DEUTSCHE SPRACHE IN LITERATUR, GESELLSCHAFT UND POLITIK
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Literatur

Zur Erinnerung an den Brienzer Mundartdichter Albert Streich (Mitteilungen 1/1999)
Aus Albert Streichs Jugenderinnerungen - 1. Teil (Mitteilungen 1/1999) 
Aus Albert Streichs Jugenderinnerungen - 2. Teil  (Mitteilungen 2/1999) 
Aus Albert Streichs Jugenderinnerungen - 3. Teil (Mitteilungen 4/1999)

Aus Albert Streichs Jugenderinnerungen (2. Teil) (2. Teil, Mitteilungen 2/1999)

von Hans Sommer  

Der 1. Teil dieser Folge brachte Ausschnitte aus Albert Streichs Jugenderinnerungen. Es ging um eine kleine Episode aus den Monaten kurz vor Alberts – «Tschuris» – Schuleintritt; scheinbar nebensächlich, aber wichtig für den Knaben und aufschlussreich für aufmerksame Leser. Man spürte etwas von der Armut der Familie Streich, von der Härte des Lebens, die schon dem kleinen Knaben zusetzte.

Heute lassen wir den Dichter vom ersten Schultag und von seinen Erlebnissen bei einer sehr strengen Lehrerin erzählen. Sie hat wenig Verständnis für Spielfreude, Mitteilungs- und Bewegungsdrang von Kindern. Ordnung, Gehorsam, Sorgfalt – an und für sich notwendige Tugenden – sind ihr oberstes Ziel; Liebe und Zuneigung zu den Kindern scheint sie nicht zu fühlen. So erlebt der sensible Knabe in der Schule den gleichen Druck, dem er in seinem armen Zuhause ausgesetzt ist.

Solche überstrenge Lehrerinnen und Lehrer hat es immer gegeben; zu allen Zeiten wirken glücklicherweise neben ihnen auch andere, menschlichere, die den Kindern mit Einfüh-lungsvermögen und Liebe begegnen. Vor 50 und mehr Jahren allerdings waren die Schulen noch recht einseitig auf Drill, Ordnung, Gehorsam ausgerichtet. Ein alter Lehrer erzählte mir einmal, ein Schulkommissionsmitglied habe ihm nach der Wahl an seine erste Stelle gesagt, er solle in der Schule nicht zu viel Firlefanz wie Zeichnen und Singen betreiben, Rechnen, Lesen und Schreiben seien die Hauptsache.

Um 1909 – Albert Streich war damals 12-jährig – erschien die Zeichnung Oberlehrer Glur. Das Historische Museum Bern zeigte sie 1983 in einer Ausstellung zum 150-jährigen Jubiläum des Staatsseminars. Im Ausstellungskatalog Lesen –Schreiben – Rechnen – lire – écrire – calculer –Die bernische Volksschule und ihre Geschichtewird sie so kommentiert:

«Streng frontal, in Ordnungsliebe erstarrt, sitzt der Oberlehrer hinter seinem Pult, sym-metrisch eingerahmt von Wandbildern, Papierkorb und Bussenkasse. Der Unterricht in Rechnen, Geometrie und Geographie kann beginnen; der Stock steht griffbereit. Ordnung, Fleiss und Betragen gelten als traditionelle Wertmassstäbe für schulisches Wohlverhalten. Die Erziehung der Schüler zu ‹nützlichen Gliedern der Gesellschaft› kann hier auf die kindlichen Bedürfnisse kaum Rücksicht nehmen.»

Nicht umsonst sind despotische Lehrer und Erzieher, kinderfeindliche Schulen, Unter-drückung der Jugend so oft Thema in literarischen Werken jener Epoche, z. B. in Frank Wedekinds Drama Frühlings Erwachen, in Heinrich Manns Roman Professor Unrat, in Hermann Hesses Unterm Rad, Robert Musils Die Verirrungen des Zöglings Törless und in Friedrich Torbergs Der Schüler Gerber hat absolviert, nicht zu vergessen Stefan Zweigs Zeit- und Sittengemälde Die Welt von gestern.

Lassen wir als gewichtigen Zeugen Thomas Mann zu Worte kommen. Gegen Ende seines Romans Die Buddenbrooks schildert er einen Schulmorgen im Lübecker Gymnasium. Hanno Buddenbrook, der kränkliche letzte Spross der Familie, leidet unter dem neuen preussisch-strengen Direktor Wulicke. Es heisst von ihm: «Dieser Direktor Wulicke war ein furchtbarer Mann. Er war der Nachfolger des jovialen und menschenfreundlichen alten Herrn, unter dessen Regierung Hannos Vater und Onkel studiert hatten, und der bald nach dem Jahre einundsiebenzig gestorben war. Damals war Doktor Wulicke, bislang Professor an einem preussischen Gymnasium, berufen worden, und mit ihm war ein anderer, ein neuer Geist in die alte Schule eingezogen. Wo ehenmals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten hatte, den man mit Ruhe, Musse und fröhlichem Idealismus verfolgte, da waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Karriere zu höchster Würde gelangt, und der ‹kategorische Imperativ unseres Philosophen Kant› war das Banner, das Direktor Wulicke in jeder Festrede bedrohlich entfaltete. Die Schule war ein Staat im Staate geworden, in dem preussische Dienststrammheit so gewaltig herrschte, dass nicht allein die Lehrer, sondern auch die Schüler sich als Beamte empfanden, die um nichts als ihr Avancement und darum besorgt waren, bei den Machthabern gut angeschrieben zu stehen …»

Und nun die Fortsetzung von Albert Streichs Kindheitserinnerungen:

Am ersten Schultag hob mich die Mutter aus dem Bett, zog mir neue Hosen an mit der Mahnung, Sorge dazu zu tragen, gab mir zu essen und hernach eine Schiefertafel und ein Feder-kästchen mit einem grünen Schiefergriffel darin unter den Arm und sagte: «So, nun mar-schiere und spute dich, dass du nicht zu spät kommst.» Und dann noch: «Nun weiss ich we-nigstens, wo du den ganzen Tag über steckst.» Es war im April. Im Gärtchen vor dem Haus blühten die schneeweissen Buschprimeln schon, auf die schwarze, frisch gekehrte Erde geduckt. Über die Mauer des nahen Wies-gutes streckten Apfelbäume knospenvolle Zweige nach der Dorfstrasse, die Wiese grünte, einzelne gelbe Löwenzahnkörbchen guckten eben aus dem Grase heraus. Über die nach dem See niedersteigenden, grauen Hausdächer flogen ab und zu die Schatten hoher Föhnwolkenbogen, die am silberblauen Himmel dahinstrichen. All das gewahrte ich wohl und mit Vertrautheit. Dass ich auszog, le-sen und schreiben zu lernen, liess mich hingegen von Hause fort zum See hinunter oder in das Feld hinaus zum Spielen. Neu mutete mich ein wenig an, so früh und allein auf der Dorfstrasse und durch unbekannte Dorfteile zu gehen. Und ein wenig Angst empfand ich, es könnte aus irgendeiner Haustür oder einem Nebengäss-chen hervor ein grösserer Bub auf mich los-kommen und mich prügeln, wie mir das schon einmal bei einem Gang durch das Dorf passiert war. Aber es trug sich am ersten Schultag nichts derartiges zu.

Mit etwelchem Staunen begegnete ich Altersgenossen, die von ihrer Mutter oder vom Vater zur Schule begleitet wurden, darunter des Nachbars Marie, die sogar heulte, als sie vor der Schulzimmertür von der Mutter wieder verlassen wurde. Es heulte noch, als die Lehrerin die Plätze angewiesen hatte; da hielt ich erst recht keine grossen Stücke mehr auf das Mädchen. Zu Mittag, als ich dann der Mutter die Namen der Begleiteten mit Schadenfreude aufzuzählen begann, schnitt sie mir plötzlich das Wort ab mit der Bemerkung, die bessern Leute machten das so, die hätten Zeit, den Kindern zu pipäperlen. Damit blieb die Sache unter uns erledigt.

Nun sass ich also in der Schule, in einem hellen Raum mit grossen Fenstern gegen Morgen und Mittag, mit glatten, weissen Wänden, einer hohen, weissen Decke und einem braunen glänzenden Fussboden und drei Reihen glänzend lackierter Schulbänke mit mir meistens unbekannten Buben und Mädchen besetzt. Vorn war der Boden etwas erhöht, und auf dieser Erhöhung stand das Pult, wie die Lehrerin sagte. Das Pult war graublau angestrichen und dahinter hing eine grosse, schwarze Tafel an der Wand, über die gleichmässige, rote Striche liefen. Alles in dem Zimmer sah nagelneu aus, schrecklich sauber und nobel und der Fussboden so glatt, dass man mit den genagelten Schuhen fast nicht auftreten durfte.

Die Leh-rerin sagte denn auch, und es war fast das erste, was sie sagte, wir wären jetzt die jüngsten im neugebauten, schönen Schulhaus und wir müssten zu allen Sachen im Zimmer schön Sorge tragen, die Bänke nicht zerkratzen und die Wände nicht beschmutzen usw. Wer etwas verderbe, dessen Eltern müssten für den angestellten Schaden viel Geld bezahlen.

Die Lehrerin trug gute, saubere Kleider, schönere als die Mutter am Sonntag; sie hatte viel blondes, glänzendes Haar und ein über und über rotes Gesicht mit grauen, strengen Augen. Wenn sie laut sprach – und das tat sie meistens – klang es hoch und scharf und unwidersprechlich, ganz ähnlich wie bei der Mutter daheim beim Schelten und beim Vater, wenn der Zorn aus ihm redete. Ja, es war ganz ähnlich, und ich wusste sofort, dass ich auch in der Schule gehorchen müsste, dass ich die Beine unter der Bank stillezuhalten, geradezusitzen, nicht rechts und links nicht, sondern auf die Tafel und das Buch zu schauen und nur zu lernen hatte. Denn bald einmal machte ich auch die Erfahrung, dass dem Ungehorsam die Strafe auf dem Fuss folgte, als ein schwatzendes Mädchen die Fingerknöchel mit einem Lineal blutig geschlagen erhielt. Der Anblick der vom Zorn übernommenen Lehrerin und des laut weinenden Mädchens mit den blutenden Fingern machte mich auf lange Zeit hinaus ängstlich und voller Misstrauen gegen hohe, schöne Zimmer und selbstsichere Frauen in schönen Kleidern.

Fast überängstlich hütete ich mich davor, die Bank zu zerkratzen, den Boden zu scharren oder eine der weissen Wände zu beschmutzen. Das sollte die Eltern zuhause ja viel Geld kosten. Und gerade in Geldsachen verstanden meine Eltern nie Spass. Ich wusste es nur zu gut: Geld war der Artikel, der zuhause stets mangelte. Durch mühsame Arbeit des Vaters sommerüber als Verbauungsarbeiter in den harten Flühen im Berg, winterüber als Holzer im verschneiten Wald, kam es karg herein; zäh und verbissen marktete die Mutter um den roten Rappen, ehe sie ihn ausgab. Mit Nötlichtun, Zurvernunftreden, mit Bitten oder kräftigem Schelten versuchte sie, den Fünfer nicht ausgeben zu müssen, wohl wissend, dass die Familie von Jahr zu Jahr grösser wurde, Vaters Zahltag aber nicht. Wäre nun zu all den notwendigen Ausgaben noch eine von mir leichtsinnigerweise verursachte gekommen, ich hätte, glaubte ich, mit einer ausserordentlich heftigen Körperstrafe und dem Verlust der elterlichen Liebe büssen müssen. Und der Verlust der elterlichen Liebe, das ahnte ich, würde mich in der Welt bodenlos machen.

(aus: Uf Bärnerbode. Jugenderinnerungen von Gotthelf bis Dürrenmatt. Herausgegeben von Hans Sommer. Bern 1972. S. 288–291)

Zwei Gedichte von Albert Streich
(Worterklärungen am Ende der Texte; erste Zahl = Strophe, zweite Zahl = Zeile)  

We dd muescht! 

Der Straass nah am See und im Ggufer
es Epfelbeimmelli steid,
es grings und von Miesch nid suufer,
vom Biiswind siitligse ggleid.
Es steid da eso, hed niid z diiten,
eis gsetzt, due vergässen, schabab;
en Gaargel, heisst’s underre Lliiten,
em beschten, mi huwwi’s grad ab!
Der Uustag ischt chon – und’s geid wiiter,
der Fehnn, es waarms Rägelli druf.
Was gleubscht, was ischt due gscheh siider?
Ar Seeschtraass es Wunder geid uuf!
Dert steid no geng ds Epfelbeimli
elleinig am Wasser, im Bluescht,
und treumd – es rooserroots Treimli
vom Läben. Ja, teusig, we dd muescht!

1,1 Ggufer = steiniger Boden / 1,3 suufer = sau-ber, rein / 1,5 z diiten = zu bedeuten / 1,6 schabab = enttäuscht, verlegen / 1,7 Gaargel = verkrüppelt gewachsener Baum 2,1 Uustag = Frühling / 2,3 siider = seither / 2,8 teusig = tausend

Der Holderbeun

Am Gässli steid en Holderbeun,
frisch grienn und volla Schatten,
en aaltersschwacha Hag dervor
vo Schwaarten und vo Llatten.
Är heicht em Burdi wiissi Bluescht
wiit uber ds Gässli twärischt,
und Biijeni summslen umha drin
voll Iifer und voll Äärischt.
Der Groosatt hed däm Beun no gsetzt,
den Hag gmacht mid de Llatten.
I teichen gengen umhi dran,
wen i dir ds Gässli abbhi gahn,
old gliwwen dert im Schatten

 Titel und 1,1 Holderbeun = Holunderbaum 1,4 Schwaar-ten = äusserster, einseitig noch mit Rinde bedeckter Abschnitt beim Zersägen eines Baumstammes 2,2 twärischt = querliegend 3,3 gengen umhi = immer wieder | abbhi = ab-wärts, hinunter 3,4 old = oder | gliwwen = ausruhen

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